Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser, ein Gespenst geht um in Sachsen-Anhalt, und es ist blau: Ein Jahr vor der Landtagswahl liegt die AfD in den Umfragen bei schwindelerregenden 39 Prozent und ist damit stärker als CDU, SPD und Grüne zusammengenommen. Ein Höhenflug, der nicht nur politischen Gegnern die Sprache verschlägt, sondern auch den demokratischen Konsens auf die Probe stellt. Dass eine vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestufte Organisation das Zeug zur bestimmenden regionalen Kraft hat, ist ein Paradox, das sich nicht allein mit Zahlen erklären lässt. Es offenbart einen Riss im Fundament der Republik. Die Gründe liegen weniger in der plötzlichen Verführungskraft der AfD als in der schleichenden Entfremdung vieler Bürger von den etablierten Parteien. Wer in Sachsen-Anhalt unterwegs ist, hört immer wieder dieselben Klagen: gescheiterte Betriebe, geschlossene Arztpraxen, aussterbende Dörfer – und Politiker, die im fernen Berlin ihre Kämpfchen ausfechten. Demokratie wird hier nicht mehr als gelebte Kompromissfindung empfunden, sondern als bürokratisches Ritual, bei dem Eliten entscheiden und man selbst bestenfalls Zuschauer ist. Die Ankündigung des populären Ministerpräsidenten Reiner Haseloff, bei der Wahl im September 2026 nicht wieder anzutreten, hat den Absturz der regierenden CDU in den Umfragen beschleunigt. Die Enttäuschung über den Kurs von Bundeskanzler Friedrich Merz kommt hinzu: Viele Ostdeutsche erkennen eine Diskrepanz zwischen seinen Versprechungen vor der Bundestagswahl und seinen Taten hinterher – sowohl beim Schuldenmachen als auch in der Migrationspolitik. Die Todesfahrt eines Arabers auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt hat zudem den Eindruck verstärkt, dass die Probleme mit den Migranten ins Land kommen. In dieser Atmosphäre des Verdrusses wirkt die AfD wie ein Lautsprecher für die unterschwellige Wut. Sie liefert einfache Antworten auf komplizierte Fragen, bietet klare Feindbilder statt komplexer Lösungen, diffamiert "die da oben" als Gegner und wähnt "die da unten" als Opfer. Gerade die Einstufung als rechtsextremistisch gibt der Partei zusätzlich Auftrieb: Ihre Funktionäre gerieren sich als verfolgte Opposition, als scheinbar mutige Stimme gegen das Establishment. Wer sich ohnmächtig fühlt, folgt gerne jenen, die versprechen, endlich "Tabus zu brechen" – und sei es nur, um dem "System" einen Denkzettel zu verpassen. In dieser Haltung schwingt nicht nur die Verachtung für demokratische Prozesse mit, sondern auch Beschränktheit. Als würden die Verhältnisse besser, wenn man sie destruktiven Schlechtrednern überlässt. "Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit", hat der von den Nazis ermordete Theologe Dietrich Bonhoeffer gesagt. Aber auch die demokratischen Parteien haben viel dazu beigetragen, dass der Boden für Extremisten so fruchtbar ist. Zu oft waren sie mit sich selbst beschäftigt, zu sehr verstrickt in Koalitionsarithmetik und Personaldebatten, nicht hellhörig genug für die Sorgen der Menschen. Zu oft haben sie ihre eigenen Befindlichkeiten über die Interessen der Bevölkerungsmehrheit gestellt. Die Folgen sind überall sichtbar, aber in Ostdeutschland besonders ausgeprägt: Weniger als die Hälfte der Menschen fühlt sich dort von den etablierten Parteien noch ernsthaft vertreten. Eine gefährliche Leerstelle, die die AfD begierig füllt – nicht mit Visionen, sondern mit Parolen und Ressentiments. Der Rechtsextremismus-Experte David Begrich erklärt die brisante Entwicklung und ihre Folgen im heutigen Podcast mit meinen Kollegen Carsten Janz und Annika Leister: Abonnieren auf Spotify | Apple Podcasts || Transkript lesen Sollte sich der aktuelle Umfragetrend bestätigen, droht Sachsen-Anhalt die politische Blockade. Alle anderen Parteien schließen eine Koalition mit der AfD kategorisch aus, und für eine Alleinregierung wird diese wohl nicht stark genug. Damit zeichnet sich ein gefährliches Szenario ab: eine stärkste Partei ohne Partner, ein Parlament ohne stabile Mehrheiten, ein Land ohne verlässliche Regierung. Unregierbarkeit ist Gift für die Demokratie. Wer sieht, dass Wahlen am Ende nichts bewegen, verliert nicht nur das Vertrauen in die handelnden Personen, sondern auch in den demokratischen Prozess. Der Teufelskreis der Politikverdrossenheit würde sich weiterdrehen, beschleunigt durch das bittere Gefühl der Ohnmacht. Doch so weit muss es nicht kommen. Die demokratischen Parteien haben noch ein volles Jahr Zeit, um den Trend zu drehen. Dafür müssen sie allerdings aufhören, nur über die AfD zu reden, und endlich öfter mit enttäuschten Bürgern sprechen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier macht mit seinen "Ortszeit"-Besuchen vor, wie es geht. Die meisten AfD-Wähler sind, anders als viele Funktionäre der Partei, keine Demokratieverächter und Extremisten. Man kann mit ihnen diskutieren – so, wie wir es vor einigen Wochen im Tagesanbruch-Podcast getan haben. Politiker müssen sichtbar werden an den Orten, die sie lange vernachlässigt haben, und Lösungen bieten, die im Alltag spürbar sind: funktionierende Schulen, erreichbare Ärzte, bezahlbare Wohnungen und Migrationsgesetze, die nicht nur proklamiert, sondern auch umgesetzt werden. Demokratie wird nicht durch Sonntagsreden gestärkt, sondern durch konkrete Verbesserungen im Alltag. Gleichzeitig braucht es mehr Bürgerbeteiligung. Zu viele Menschen haben es sich in der Rolle der passiven Meckerer gemütlich gemacht. Wem die Politik nicht passt, der muss eben selbst anpacken. Bürgerinitiativen, Diskussionsforen und Mandate in demokratischen Parteien stehen jedermann offen. Wo es keine gibt, gründet man eben welche. Demokratie lebt vom Mitmachen, nicht vom Zuschauen. Der Aufstieg der AfD ist ein Spiegel. Er zeigt, wie groß die Distanz zwischen Regierenden und Regierten vielerorts geworden ist, wie sehr die etablierten Parteien es versäumt haben, die Demokratie nicht nur zu verwalten, sondern auch zu erklären und erlebbar zu machen. Noch ist Zeit, das Bild zu korrigieren. Aber sie verrinnt. Handeln die demokratischen Kräfte jetzt nicht beherzt, werden die anderen triumphieren – mit einfachen Parolen und gefährlichen Konsequenzen. Haben die Spalter erst einmal die Macht errungen, werden sie diese nicht so schnell wieder hergeben. Doch Demokratie lebt nicht von Angst, sondern von Zuversicht. Es ist an den Parteien der Mitte, diese Zuversicht wiederzubeleben – beherzt, aufrichtig, nahbar. Sonst droht Sachsen-Anhalt nicht nur unregierbar zu werden. Es könnte zum Menetekel für die ganze Republik werden. Mit diesen Gedanken wünsche ich Ihnen ein engagiertes Wochenende. Unsere Regionalleiterin West, Laura Schameitat, informiert Sie mit ihrem Team auf t-online über den Ausgang der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen. Am Montag kommt der Tagesanbruch von Christine Holthoff, von mir lesen Sie am Dienstag wieder. Herzliche Grüße Ihr Florian Harms Chefredakteur t-online E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de Alle Podcast-Folgen der Diskussion am Wochenende finden Sie hier in einer Liste auf Spotify. Alle bisherigen Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier . Alle Nachrichten von t-online lesen Sie hier .